Ein Granatsplitter tötete den Freund: 

"Ich bin noch nicht damit fertig"

Helmut Reuter mit dem Foto des zerbombten Bahnhofs: "Man sah sich einige Tage nach dem Angriff an, was in der Stadt alles zerstört worden war." (Bild: Brigitte Wambsganß)

Siegen. (bw) Es fällt Helmut Reuter immer noch schwer, über den 16. Dezember 1944 zu sprechen. Mit 14 Jahren hat er gelernt, was Krieg bedeutet und wie sinnlos er ist. "Gewalt ist nie eine Lösung", sagt der langjährige Kirchmeister der Nikolai-Gemeinde heute.

An jenem Samstag hatte er schulfrei. In Jungvolk-Uniform lief er mit seinem Freund Werner Heckner vom Süßen Kampen, wo er wohnte, zur Hainer Schule. "Wir sollten an diesem Tag in der Oberstadt für das Winterhilfswerk sammeln." Der dritte Adventssamstag war kalt, aber sonnig: "Die Geschäfte waren offen und es war viel Betrieb in der Stadt."

Helmut und Werner gingen zu Fuß den Jähen Hain hoch. Den Vor- und Vollalarm hatten sie gehört: "Den akuten Alarm - drei kurze Töne - bekamen wir nicht mit, weil wir rumgealbert haben." Plötzlich waren die Flieger am Himmel.

Man sah keine Sonne mehr

Die Jungen sahen die Bomben auf sich zukommen: "Wir dachten, es seien Silberstreifen, die den Funkverkehr stören sollten. Aber nur kurz - denn dann krachte es schon."

Helmut und Werner warfen sich auf den Boden, schützten den Kopf mit den Händen und öffneten den Mund - wie sie es gelernt hatten: "Sonst platzen die Lungen." Wenige Minuten dauerte der Angriff: "Nach jedem Treffer in der Nähe sagte ich mir: Den hast du überlebt", erinnert sich Helmut Reuter. Als es vorbei war und er nach oben schaute, sah er keine Sonne mehr: "Alles Rauch - es roch nach Schutt."

Der Junge stieß seinen Freund an. "Ich sagte noch: Komm lass uns in den Bunker gehen." Dann blickte er neben sich und sah, dass ein Granatsplitter Werners Kopf weggerissen hatte. Er schrie voller Entsetzen ganz laut. "Ich bin heute noch nicht damit fertig", sagt er.

Der Junge wollte nur noch nach Hause - aber das gab es nicht mehr. Die Mutter stand mit dem für den Notfall gepackten Köfferchen und dem fünfjährigen Bruder an der Hand auf der Wiese. Helmut Reuter: "Das Haus war nur noch ein Gerippe." Der Großvater war schwer verletzt und sollte nicht mehr zu sich kommen, bis er einige Wochen später starb. Die Großmutter war gesund.

Die Familie wartete voller Angst auf den Vater und die Schwester. Der Vater war nach der Arbeit in der Maschinenfabrik Herkules mit dem Schubkarren zur Brauerei Irle unterwegs, um einen Kasten Bier zu holen. Die Schwester arbeitete im Haushalt der Kaufmanns-Familie Schreiber. Beide überstanden den Angriff - die Schwester kam mit versengten Haaren und Kleidern nach Hause.

Nachbarn lebten vom Ochsenfleisch

Jetzt begann der Überlebenskampf: "Wo sollten wir schlafen, was sollten wir essen?" Die Familie schlief auf Notbetten im noch erhaltenen Keller ihres Hauses. Anfangs mussten die Bauern den ausgebombten Städtern noch geschmierte Brote bringen. Ab und zu wurde Eintopf verteilt. Ein Glück war es, dass die Reuters noch ihren Vorrat an eingesalzenem Ochsenfleisch hatten. Der Ochse war beim Bau von Panzersperren getroffen worden: "Einige Männer, darunter mein Vater, hatten ihn zerlegt und das Fleisch eingesalzen." Von dem Vorrat lebte die ganze Nachbarschaft - bis die Amerikaner kamen. Helmut Reuter hat damals auch Positives erfahren: "Man hielt zusammen."

Quelle:    Westfälische Rundschau     15.12.2004

MedienZentrum Siegen-Wittgenstein      Karl Heupel